Erwartungen gehören zu unserem Alltag – sie sind stillschweigende Begleiter in Beziehungen, am Arbeitsplatz oder in der Familie und tief im menschlichen Dasein verwurzelt. Sie haben sich als Überlebensmechanismus entwickelt und helfen uns, die Welt zu verstehen und soziale Interaktionen zu steuern. Erwartungen sind auch kulturell geprägt und spielen eine zentrale Rolle in Beziehungen und Gesellschaften. Sie sind fundamental für unser Lernen, unsere Anpassung und unser Überleben.
Erwartungen führen dann zu Stress, Missverständnissen, Konflikten oder Enttäuschungen, wenn sie unausgesprochen bleiben oder nicht erfüllt werden. Wie können wir mit unseren eigenen und den Erwartungen anderer umgehen, ohne den Kontakt zu uns selbst oder zu unseren Mitmenschen zu verlieren? Die Gewaltfreie Kommunikation GFK bietet eine Haltung und Werkzeuge, um den Umgang damit bewusster und konstruktiver zu gestalten.
Ein Bewusstsein für Erwartungen entwickeln
Erwartungen werden oft als Forderungen wahrgenommen – insbesondere dann, wenn wir nicht transparent machen, weshalb wir eine bestimmte Erwartung haben.
"Wenn jemand eine Forderung von uns hört, dann sieht er oder sie zwei Möglichkeiten: Unterwerfung oder Rebellion."
M.B. Rosenberg
Im Kern basieren Erwartungen auf Bedürfnissen. Der erste Schritt in der GFK besteht darin, diese Bedürfnisse zu identifizieren und in den Fokus zu rücken.
Beispiel aus dem beruflichen Kontext
Lisa, eine Teamleiterin, ärgert sich über einen Kollegen, der nicht wie erwartet an einem Projekt arbeitet. Sie spürt Frustration und formuliert in einem Feedback-Gespräch: „Ich habe den Eindruck, dass dir unser gemeinsames Ziel nicht wichtig ist!“
Mit einer GFK-Haltung könnte Lisa ihre Erwartung untersuchen und ausdrücken:„Ich merke, dass ich mir Sorgen mache, ob wir die Deadline einhalten können. Mir ist Verlässlichkeit in der Zusammenarbeit wichtig. Wie siehst du das?“
Durch den Wechsel vom Vorwurf zum Bedürfnis (Verlässlichkeit) öffnet Lisa einen Raum für Dialog.
Die eigene Haltung überprüfen
Die GFK lehrt, dass Erwartungen weniger belastend sind, wenn sie von einer Haltung der Offenheit und Verbindung getragen werden. Statt auf Erfüllung zu beharren, können wir sie als Bitten formulieren – mit der Bereitschaft, auch ein „Nein“ anzunehmen und dem Bewusstsein, dass ein "Nein" kein Kontaktabbruch ist sondern ein "Ja" zu etwas Anderem.
Beispiel aus der Paarbeziehung
Paul wünscht sich, dass seine Partnerin nach der Arbeit mehr Zeit mit ihm verbringt, statt am Handy zu hängen. Sein erster Impuls ist ein genervtes: „Musst du schon wieder am Handy sein?“
Mit der GFK-Haltung könnte Paul sagen: „Ich habe das Bedürfnis nach Nähe und freue mich, wenn wir den Abend zusammen verbringen. Wäre es für dich möglich, das Handy für eine Weile beiseitezulegen?“
Ein „Nein“ seiner Partnerin wäre zwar möglich, doch allein die respektvolle Formulierung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Paul gehört wird – ohne Schuldzuweisungen.
Erwartungen an sich selbst: Vom Selbstdruck zur Selbstfürsorge
Nicht nur die Erwartungen anderer, sondern auch unsere eigenen Ansprüche können uns belasten. Oft entstehen sie aus Glaubenssätzen wie „Ich muss perfekt sein“ oder „Ich darf niemanden enttäuschen“. Die GFK ermutigt uns, auch hier innezuhalten und unser inneres Gespräch bewusst zu gestalten. Marshall Rosenberg sagte dazu:
„Die meisten von uns sind mit einer Sprache aufgewachsen, die uns ermutigt, zu benennen, zu vergleichen, zu fordern und Urteile zu fällen, anstatt uns bewusst zu sein, was wir fühlen und brauchen.“
Beispiel aus dem Familienleben
Clara, eine junge Mutter und Angestellte, erwartet von sich, den Haushalt perfekt zu führen, alle beruflichen Aufgaben pünktlich zu erledigen und gleichzeitig genügend Zeit für ihre Kinder und ihren Partner zu haben. Als sie merkt, dass sie abends erschöpft und unzufrieden ist, entsteht ein innerer Vorwurf:„Ich sollte besser organisiert sein. Andere schaffen das doch auch!“
Mit der der GFK könnte Clara innehalten und sich selbst empathisch begegnen:
Selbstempathie: Clara könnte ihre Gefühle und Bedürfnisse erkunden:
„Ich fühle mich erschöpft und frustriert. Was brauche ich gerade? Vielleicht mehr Leichtigkeit und Unterstützung.“
Inneren Dialog transformieren: Statt sich selbst zu kritisieren, könnte sie sich eine empathische Botschaft senden:
„Es ist okay, dass ich nicht alles schaffe. Ich sehe, wie viel Mühe ich mir gebe, und ich anerkenne meinen Wunsch, es allen recht zu machen. Gleichzeitig brauche ich Mitgefühl für mich selbst.“
Realistische Bitten an sich selbst formulieren: Clara könnte überlegen, wie sie ihre Bedürfnisse realistischer erfüllen kann:
„Heute erlaube ich mir, nur die wichtigsten Aufgaben zu erledigen und mir danach eine Pause zu gönnen.“
„Wäre es möglich, meinen Partner um Unterstützung im Haushalt zu bitten?“
Der erste Schritt im Umgang mit Erwartungen liegt in meiner Erfahrung darin, eigene Erwartungen in eine freundliche Einladung zu verwandeln, anstatt sie als unerbittlichen Anspruch zu formulieren. Wenn Clara ihre Haltung verändert, reduziert sie nicht nur ihren Stress, sondern schafft auch Raum für echte Verbindung mit sich selbst und anderen.
GFK-Frage an dich selbst:
„Wenn ich mit mir selbst sprechen würde, wie mit einem guten Freund oder einer guten Freundin – wie würde dieser Dialog klingen?“
Indem wir uns selbst empathisch zuhören, schaffen wir die Basis für innere Klarheit und Selbstfürsorge – und stärken unsere Resilienz im Umgang mit äusseren und inneren Anforderungen.
Mit den Erwartungen anderer umgehen: Empathie statt Widerstand
Wenn wir mit Erwartungen anderer konfrontiert werden, erleben wir oft Druck oder den Eindruck, kontrolliert zu werden. Die GFK lädt uns ein, innezuhalten und zu fragen: Welches Bedürfnis könnte hinter der Erwartung stehen?
Beispiel aus dem beruflichen Kontext
Jonas’ Chef erwartet, dass er Überstunden macht, obwohl Jonas diese Woche viel Zeit für seine Familie eingeplant hat. Statt mit einem direkten „Nein“ zu reagieren, könnte Jonas empathisch antworten: „Ich höre, dass es Ihnen wichtig ist, das Projekt rechtzeitig abzuschliessen. Ich selbst habe das Bedürfnis nach Balance zwischen Arbeit und Familie. Können wir gemeinsam eine Lösung finden?“
Indem Jonas die Bedürfnisse seines Chefs anerkennt, entsteht eine Grundlage für Verhandlung – statt für Eskalation.
Praktische Tipps für den Umgang mit Erwartungen
Selbstklärung: Nimm dir einen Moment, um dich zu fragen:
Welche Erwartung habe ich (an mich oder andere)?
Welches Bedürfnis steht dahinter?
Ist meine Erwartung realistisch oder unbewusst eine Forderung?
Bitten statt Fordern: Formuliere Erwartungen klar, ohne Drohungen oder Vorwürfe:
„Ich brauche ... und wünsche mir ...“
„Wärst du bereit, ...?“
Empathie zeigen: Wenn jemand Erwartungen an dich äussert, höre mit Empathie zu:
„Es klingt, als wäre dir ... wichtig. Stimmt das?“
„Was genau brauchst du (von mir)?“
Bewusst mit „Nein“ umgehen: Ein „Nein“ zu einer Erwartung ist oft ein „Ja“ zu einem anderen Bedürfnis – deinem eigenen. Begründe dein „Nein“ transparent:
„Ich verstehe dein Anliegen. Gleichzeitig ist mir gerade wichtig, dass ...“
Fazit: Erwartungen als Chance für Verbindung
Indem wir mit den Werkzeugen der GFK unsere eigenen Erwartungen hinterfragen und die der anderen empathisch hören, verwandeln wir potenzielle Konflikte in Gelegenheiten für Verständigung. Wie Marshall Rosenberg sagte:
„Das Ziel der Gewaltfreien Kommunikation ist es, eine Verbindung zu schaffen, die es ermöglicht, die Bedürfnisse aller zu erfüllen.“
Anstatt Erwartungen als Last zu empfinden, können wir sie also in Einladungen verwandeln – und so Beziehungen stärken, ob im Beruf, in der Familie oder mit uns selbst. Dieser gelassene Umgang mit Erwartungen ist nicht immer einfach und bringt uns manchmal auch an unsere Grenzen. Es gibt auch Situationen und Beziehungen, wo es nötig und richtig ist, Grenzen klar zu spüren, zu kommunizieren und sich entsprechend abzuwenden. Ich empfehle, sich bei belastenden Situationen Unterstützung zu holen.
Alle Fotos dieses Beitrags stammen von "Cottonbro" auf pexels.com
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